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Abenteuer Leben. Studium. Beruf. © Sarah Staber & Stephanie Briegl / MEINPLAN.at

Praktikum Psychiatrie - "normal werd‘ ich nie!"

Weshalb ich mich bewusst auf ein Praktikum in der Psychiatrie eingelassen und warum ich mich dorthin begeben habe, wo ,,die Irren“ sind.

Im Zuge meiner Ausbildung – zuerst als Sozialpädagogin, danach als Sozialarbeiterin – wagte ich mich gleich zwei Mal in das Feld der Psychiatrie. Ein Gebiet, welches viele meiner KollegInnen vermeiden wollten: ,,Ein Büro am Magistrat is gmiatlicher!“, hörte ich einmal jemanden sagen. Ich habe mich bewusst auf ein Praktikum in dieser Abteilung eingelassen.

 

Von Skeletten und Kopfschlägen

Lisa war ihr Name – sie, die nur mehr Haut und Knochen war. Sie war wegen Anorexia nervosa hier, weinte, stützte den Kopf auf den Tisch und wirkte verzweifelt, da sie die Anordnung zur Sonde bekommen hatte. Und das an meinem ersten Tag! Meine Praktikumsbetreuerin bewog das Mädchen dazu, sich in die morgendliche Gruppentherapie zu begeben, da diese aufgrund der Sonde Lisas letzte für eine unbestimmte Zeit sein würde. Just in diesem Moment hörte man ein lautes Geschrei – Anna schlug im Gruppentherapieraum wiederholt mit dem Kopf gegen die Wand. Okay, war diese Praktikumswahl wirklich so klug? Vielleicht wäre ein Praktikum an einem anderen Ort doch die bessere Wahl für mich gewesen?

 

Ausbrüche als Zeichen von Gefühl

Umso mehr Zeit verging, desto weniger irritierten mich die ungewöhnlichen Vorfälle auf der Abteilung. Mit der Zeit gewöhnte ich mich ein und lernte, mich mit diesen vielfältigen, außergewöhnlichen Situationen zu arrangieren. Langsam begann ich über die „Eigenheiten“ mancher Bewohner hinwegzusehen und wieder fokussierter auf den Menschen hinter den Problemen zu blicken. Im Laufe der Zeit führte ich zahlreiche Gespräche mit den PatientInnen, denn ich wollte vor allem eines: diese kennenlernen und erfahren, wie es aus ihrer Sicht zu den massiven Ausbrüchen kommt, welche eigentlich – wie sich später beim Bilanzieren herausstellte - nur einen kleinen Teilbereich des Alltagsverhaltens einnahmen. Natürlich gab es da noch viel, viel mehr von den Patienten zu erkunden: Gefühle zum Beispiel – und davon ganz schön viele! So unterschiedlich die Geschichten, Symptome und Krankheiten waren – alle verdeutlichten mir vor allem eines: ,,Auszucker“ kommen dann zustande, wenn die Gefühle zu intensiv werden und nicht mehr kontrolliert werden können. Oft kommt es dann zu „Vulkanausbrüchen“ – aber ist man deshalb gleich verrückt?

 

Normal werd‘ ich nie!

Einige PatientInnen hatten zwar weniger ,,Auszucker“, dafür aber Verhaltensweisen, die wir als ,,anormal“ bezeichnen würden. So erhielt ich öfters überraschende Antworten bei Gesprächen, die für mich persönlich keinen Sinn ergaben – aber sehr wohl für die Patienten. Die Frage ist: Was ist denn schon normal? Lukas, zur Zeit meines Praktikums gerade Patient in der Psychiatrie, meinte einmal zu mir: ,,Normal werd‘ ich nie!“ Als ich ihn fragte, ob ihn das störe, verschränkte er die Arme und schüttelte den Kopf: „Nein. Besser so sein wie ich als das tun, was alle tun!“. Ich bewundere noch heute diese Einstellung, so stark und selbstbewusst.



 

Die Geschichte hinter der Krankheit

Ich persönlich habe von meinen Praktika in der Psychiatrie vor allem eines mitgenommen: Hinter (fast) jeder psychischen Krankheit steht eine interessante und zutiefst komplexe Geschichte. Menschen, die sich in der Psychiatrie aufhalten, lassen sich helfen. Man denke an all jene, die ähnlich leiden, sich aber selbst nicht als ,,psychisch krank“ bezeichnen würden. Viele Leute leiden Tag für Tag, möchten sich aber nicht in professionelle Hände begeben. Nur ein kleiner Teil der Menschen, die seelische Hilfe bräuchten, macht tatsächlich eine stationäre Therapie.

 

Doch was ist mit allen anderen? Sie versuchen jeden Tag, ihr Leben alleine zu meistern, ohne einen Profi an ihrer Seite. Dabei wäre es für sie eine große Hilfe, wenn sie über ihren Schatten springen könnten. Sagen, dass man Hilfe braucht, ist nicht leicht. Vor allem dann nicht, wenn man sich (und Freunden und Verwandten) dadurch eingesteht, dass man „es selbst nicht in den Griff kriegt“. Wäre es nicht gut für uns alle, wenn psychische Probleme und Krankheiten kein „Tabuthema“ mehr wären?

 

Wer bestimmt, was normal ist?

Man hört und liest es oft, aber ich möchte es trotzdem betonen: Das unsereins bekannte ,,Normal“ gibt es nicht. Was ist schon „normal“? Wer bestimmt das, wer legt die Regeln fest? Das ist ein weiterer wichtiger Punkt, den ich im Praktikum gelernt habe.

 

Mein Praktikum hat mich gelehrt, Verhaltensweisen von Menschen nicht sofort zu verurteilen, sondern zu hinterfragen. Vielleicht hat die Person Gründe für ihr Verhalten, die ich verstehen und nachvollziehen könnte, würde ich sie nur kennen.

 

Hilfe finden

Wenn alles zu viel wird und die Welt sich ver-rückt, gibt es die Psychiatrie als Ort, wo Menschen vor allem eines suchen und in vielen Fällen auch finden: Hilfe. Wenn du also jemanden kennst, der in einem psychiatrischen Krankenhaus ist oder war, dann denk daran: Dieser Mensch war/ist auf der Suche nach Hilfe für die Seele. Und sind wir das nicht irgendwie alle?

 

Falls du im Sozialbereich tätig bist oder gerade etwas in diese Richtung studiert oder lernst: Wenn sich dir die Möglichkeit eröffnet, in einer psychiatrischen Einrichtung ein Praktikum zu absolvieren, wage es. Es ist bestimmt nicht einfach, aber man lernt sehr viel. Für mich war diese Erfahrung eine enorme Bereicherung, die ich nicht missen möchte. So schwer es an manchen Tagen war, es hat sich gelohnt.

Nathalie Credo

Schon viel gesehen, erlebt und ausprobiert: einfach Nathalie. Ich bin Sängerin, Autorin, Sozialpädagogin und Sozialarbeiterin, wobei ich mich auf zuletzt genanntem Gebiet gerade weiter spezialisiere. Neben Österreich sind die USA mein zweites Zuhause - das Reisen ist eines meiner liebsten Hobbys, doch zu lange würde ich von meinen beiden Katzenkindern nicht getrennt sein wollen. Meine Blogs sind vielfältig – so wie ich!

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